Geschichte der Immigration heute. Einige Richtungen der Reflexion

Marie-Claude Blanc-Chaléard

Sitzung vom 14. Januar 2000

Diese « Reflexionsrichtungen » sind als eine persönliche Herangehensweise vorgestellt worden und erheben keinerlei Anspruch auf universelle Gültigkeit in Bezug auf ein Forschungsfeld, das heute von einer wachsenden Anzahl von Forschern durchmessen wird und auf dem sich die unterschiedlichsten Sichtweisen kreuzen. Die Diskussion hat im übrigen gezeigt, daß die Debatte weiterhin offen ist.

Ich habe zunächst erwähnt, welches mein Ausgangspunkt war :  Nämlich Studien über die Geschichte der Italiener in der Pariser Region, die ich seit 1988 betrieben habe und aus denen eine Abhandlung hervorging, die soeben erschienen ist. [1] Diese Studie umfasst einen langen Zeitraum (1880 bis 1960) und bemüht sich, den Integrationsprozess am Beispiel zweier Viertel im Osten von Paris sowie zweier Kommunen der engeren Banlieue zu verstehen. Im Gegensatz zu dem, was Gérard Noiriel für Longwy gemacht hat, bemüht sich die Untersuchung, die Einwanderer innerhalb des Rahmens Paris so wenig wie möglich von der einheimischen sozialen Umgebung zu trennen. Als weiterer methodischer Imperativ wurden die Ebenenwechsel (Agglomeration, Nation, internationale Beziehungen) als unerlässlich betrachtet, um die historische Analyse in den zugehörigen Rahmen zu stellen.

Die Ergebnisse, zu denen mich ein genaues Studium der italo-pariser Gebiete und ihrer Entwicklung zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den sechziger Jahren (und sogar darüber hinaus) geführt hat, haben einige Probleme deutlich gemacht, auf die die heutige historische Immigrationsforschung, so, wie sie ist, keine hinreichende Antwort geben können. Da sich meine Fragestellung vor allem mit der Integration befasste, wurde mir deutlich (allerdings versteht sich dies im Grunde von selbst), daß es erforderlich ist, die einzelnen Generationen in unterschiedlicher Weise zu befragen :  Die aufeinanderfolgenden Generationen von "Primärmigranten" (es gab für die Italiener mehrere Wellen zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den sechziger Jahren) und die Generationen ihrer Kinder, die eine zentrale Rolle im Integrationsprozess spielen, eine Rolle, die in ihrer spezifischen Problematik untersucht werden muß. Gleichzeitig war ich sehr sensibel für den wesentlichen Bruch, den für die pariser Gesellschaft (als Spiegel der französischen Gesellschaft) die sozialen Transformationen der fünfziger-sechziger Jahre darstellten. Der Integrationsprozess erwies sich als in einzigartiger Weise beschleunigt für die Kinder der alten Einwanderung und als grundlegend verändert für die neu Angekommenen. Hierher stammt die Idee, daß es eine Historizität der Integration gibt, über die bislang keine Forschungen vorliegen, da die historische Migrationsforschung bislang den Akzent auf die Kontinuitäten gelegt hat.

Diese kurze Bilanz führte in einem zweiten Schritt dahin, einige bereits im Editorial einer jüngeren Nummer der Zeitschrift Le Mouvement Social angeführte Fragenkomplexe wieder aufzugreifen. [2] Die erste Frage war Thema einer laufenden, wenig bekannten Forschungsarbeit über die jüngeren Migrationsbewegungen und eine Periode, die als "zweites zwanzigstes Jahrhundert" bezeichnet wird. Eine weitere rührte vom Eindruck her, daß die Präsenz der Historiographie im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs über die Immigration, nach einem bemerkenswerten Start in den Jahren 1988-1995, stark nachgelassen hat. In der Diskussion wurde der Widerspruch zwischen diesem Eindruck und der explosionsartigen Zunahme von historischen Forschungsarbeiten zu Migrationsfragen betont, die wir zur Zeit erleben, gleichzeitig mit einer Banalisierung der Themen, die von den Historikern seit den achtziger Jahren bearbeitet werden (Beitrag von Gérard Noiriel). Unter den möglichen Erklärungen ist die große, unvermeidliche Zerfaserung der Forschung zu erwähnen, die die von den ersten, problemorientierten Synthesen geöffneten Pisten [3] verwischt. Darüber hinaus verzögert sich die Nachfolge der wenigen Historiker, die die Rolle der Propheten gespielt haben (Yves Lequin, Pierre Milza, Janine Ponty, Ralph Schor, Gérard Noiriel, Emile Témime), und die jungen Forscher müssen sich an Doktorväter wenden, die sich allenfalls marginal für diese Geschichte interessieren. Dies ist um so ärgerlicher, als zur gleichen Zeit die Nachfrage der Institutionen Möglichkeiten eröffnen, die sich in eine gemeinsame historische Reflexion einbringen lassen könnten. [4] Die am besten in einem Gesamtzusammenhang artikulierten Forschungen werden augenblicklich in der Erweiterung der Arbeiten von Gérard Noiriel zum Problem der Identitäten, der Konzepte und ihrer nationalen Reklamierung gemacht. Ein weiterer Ort allgemeiner Reflexion ist die vergleichende Geschichte des Ausländerrechts und der Ausländerpolitik, insbesondere im Kreis um Patrick Weil, der die Debatte über die Geschichte der Immigration nach 1945 eröffnet hat.

Zahlreiche weitere zentrale Fragen werden von Forschungen abgedeckt, die an weit verstreuten Orten unternommen werden. Die öffentliche Meinung bleibt das Interesse der Studierenden von Ralph Schor in Nizza [5] und von Pierre Laborie in Toulouse. Unter der Leitung von Janine Ponty situiert sich die Dissertation von Philippe Rygiel an der Kreuzung zwischen einem zentralen Themenkomplex, dem der Analyse des Schicksals der Eingewanderten, ihrer Itinerare und sozialen Mobilität, und einer strengen Methode, die sich auf die elektronische Datenverarbeitung stützt. Man trifft auf die von Maurizio Gribaudi über die Arbeiter in Turin erforschten Wege, die einige Nachahmer finden sollten. [6] Nach einer zeitweiligen Missachtung wendet sich das Interesse der Forschung erneut dem Verhältnis zwischen der ökonomischen Funktion des eingewanderten Arbeiters und seiner sozialen Lage zu. In dieser Hinsicht ist Nancy Greens Buch über die Geschichte der Konfektionsindustrie exemplarisch. [7] Untersuchungen über den Bausektor und den Kleinhandel sind im Gange. [8]

Was neue Untersuchungsfelder angeht, so weckt das Verhältnis Kolonisation ' Immigration wachsendes Interesse. [9] Dieses Problemfeld ist von grundlegender Bedeutung, um am Beispiel der Migration aus den alten Kolonialgebieten die Frage nach den Verbindungen zwischen Nation und Immigration zu reaktualisieren. Dagegen gibt es ' im Gegensatz zur Flut soziologischer Arbeiten über diese Frage seit dem Ende der sechziger Jahre ' kaum historiographische Arbeiten über die Bedingungen von Niederlassung und Integration bei den letzten Einwanderungswellen, insbesondere denen aus Nordafrika. über die Portugiesen haben die Arbeiten von Marie-Christine Volovitch-Tavarès einige Schlaglichter geworfen, die die Fertigstellung ihrer Dissertation vervollständigen sollte. Diese Fragen sollten zu neuen, heute kaum berührten Fragestellungen führen hinsichtlich der Beziehungen zwischen Sozialstaat, Immigration und Identität.

Man bemerkt die Seltenheit von Studien über die Herkunftsregionen und über Immigration als Mobilitätsphänomen, geschweige denn über die gelegentliche Existenz von Diasporen. [10] Ebenso trauriger Stand bei komparativen Arbeiten. Wenn auch einige Veröffentlichungen bereits die Verschiedenheiten der Einwanderungsmodelle und 'politiken behandelt haben, bleiben Studien im großen Maßstab, die es erlauben würden, die konkrete realität der Differenzen im Integrationsprozess verschiedener Staaten zu beleuchten, noch Pionierarbeit. [11]

Als Schlussstrich für diese Skizze, deren Hauptgegenstand das Plädoyer für eine bessere Kenntnis der jüngsten Geschichte war (die für überlegungen über längere Zeiträume hinweg nach meinem Verständnis unverzichtbar ist), bin ich kurz auf meine künftigen Forschungsprojekte zu sprechen gekommen, die sich ' wenig überraschend ' mit einigen Aspekten der Verbindungen zwischen französischer Gesellschaft und ihren Einwanderern nach 1945 beschäftigen werden. Als nächstes beginne ich, in einem Versuch, die politische Dimension der Integration in den Griff zu bekommen, mit einer Untersuchung über Stadträte ausländischer Herkunft in der pariser Region. Und als Erweiterung der Fragestellungen, die ich in meiner Dissertation zum sozio-urbanen Raum bearbeitet habe, will ich mich mit der Frage des Verschwindens der bidonvilles und des Schicksals der umgesiedelten Bevölkerung befassen. Forschungen dieses Genres werden davon behindert, daß der Zugang zu namentlichen Quellen eingeschränkt ist und Studien über die französische Gesellschaft der Glorreichen Dreißig auf sich warten lassen. Diese räkelt sich derzeit, und es wäre nicht verfehlt zu denken, daß die historische Migrationsforschung eine Rolle spielen könnte bei der Herausbildung der Paradigmen für eine Sozialgeschichte dieser Epoche. [12]

[1] Marie-Claude Blanc-Chaléard, Les Italiens dans l'Est parisien ' Une histoire d'intégration (années 1880-1960) [Die Italiener im Osten von Paris ' Die Geschichte einer Integration (1880-1960)] , Rome  :  Ecole Française de Rome 2000.

[2] «Immigration et logiques nationales, Europe XIXe-XXe siècles» [Einwanderung und Logik des Nationalen. Europa im 19. und 20. Jahrhundert], Le Mouvement social , n°188, juillet-septembre 1999.

[3] Insbesondere von Gérard Noiriel, Le creuset franÿais , Paris 1988 [engl. Ausgabe The French Melting Pot] und La tyrannie du national [dt. Ausgabe Die Tyrannei des Nationalen), Paris 1991.

[4] Vgl. die Beiträge von Vincent Viet ( La France immigrée [Das immigrierte Frankreich]) und Marc Bernardot (über die Sonacotra) zu diesem Seminar, dessen Ziel es unter anderem ist, einen Begegnungsort für die jüngste Forschung herzustellen.

[5] Vgl. die demnächst erscheinende Doktorarbeit von Yvon Gastaud über die öffentliche Meinung und die Ausländer unter der Fünften Republik.

[6] P. Rygiel, Mais où sont donc passés les immigrés d'antan ? Trajectoires sociogéographiques de familles issues de l'immigration européenne implantées dans le Cher pendant l'entre-deux-guerres [Wo sind nur die Einwanderer von einst geblieben? Soziogeographische Bahnen von aus der Einwanderung hervorgegangenen, im Cher in der Zwischenkriegszeit implantierten Familien], Université de Besanÿon, 1996. M.Gribaudi, Itinéraires ouvriers. Espaces et groupes sociaux à Turin au début du XXe siècle [Arbeiteritinerare. Soziale Räume und Gruppen in Turin zu Beginn des 20. Jahrhunderts] , (EHESS, 1987).Le livre récent de P-A Rosenthal, Les sentiers invisibles. Espace, famille et migrations dans la France du 19e siècle [Die unsichtbaren Werkstätten. Raum, Familie und Migration im Frankreich des 19. Jahrhunderts] , (EHESS, 1999) stützen sich auf analoge Methoden.

[7] N.Green, Du sentier à la 7ème avenue. La confection et les immigrés, Paris-New York 1880-1980 [Vom Sentier zur 7th avenue. Die Konfektion und die Einwanderer] (Paris 1998).

[8] Laufende Forschungen von Claire Zalc über die italienischen Kleinhändler im Quartier La Villete in Paris, verschiedene Untersuchungen über die italienischen Bauarbeiter. Ein Kolloquium, das im November 2000 in Caen stattfinden soll, ist der Italienischen Einwanderung und den Bauberufen gewidmet. Siehe auch die Dissertation und den Beitrag zu diesem Seminar von Y. Frey über die eingewanderte Arbeitskraft im Pottasche-Bassin des Elsaß.

[9] Vgl. die Arbeiten von C. Liauzu, R. Gallissot, E. Témime und den Beitrag von G. Massard-Guilbaud zu diesem Seminar.

[10] Dissertation von C. Douki, Les mutations d'un espace régional au miroir de l'émigration. L'Apennin toscan (1850-1939) [Die Veränderung einer Region durch Auswanderung. Der toskanische Apennin 1850-1939], IEP Paris 1997. Forschungen zu Mobilität und Identität bleiben für die jüngsten Wanderungsbewegungen bislang eine Domäne der Geographen (Portugiesen, Soninké).

[11] J. Rainhorn arbeitet über einen Vergleich zwischen italienischen Einwanderern in Paris und New York im 19. Jahrhundert.

[12] Vgl. das Seminar Relire l'histoire des trente Glorieuses [Die Geschichte der dreißig Glorreichen neu lesen], CHU-ENS Fontenay-St-Cloud/CHRMSS'Paris 1, ENS Fontenay, Freitags 14-17h.

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