Die französische öffentliche Meinung zur Einwanderung seit 1945. Kontinuitäten und Entwicklungen.
Y. Gastaut, Universität Nizza
Sitzung vom 18.5.2001
1. Das Eindringen der Immigration in die öffentliche Debatte
Die Einwanderungspolitik weist zwei Phasen auf : Von 1945 bis 1965 Öffnung, von 1965 bis heute Abschließung. In diesem Rahmen haben die öffentlichen Gewalten die Haltung der öffentlichen Meinung geformt; diese reagiert direkt auf die Art, in der die politischen Eliten mit der Immigration umgehen. Die Entwicklung der Geisteshaltung der Franzosen nach dem Zweiten Weltkrieg erfordert eine allgemeine Vorbemerkung. Während zunächst Desinteresse herrscht, da die Ausländer lediglich als Arbeitkräfte wahrgenommen werden, beschäftigt sich die öffentliche Meinung in dem Augenblick mit der Einwanderung, als die Integration in vollem Gange ist. Tatsächlich taucht die Einwanderungsfrage während der achtziger Jahre in der öffentlichen Diskussion auf, genauer : zwischen 1983 und 1985. Dies belegen zwei Ereignisse : Das Erscheinen der Front National auf der politischen Bühne mit ihren Erfolgen bei den Kommunalwahlen im Frühjahr und Herbst 1983 (insbesondere nach der Stichwahl in Dreux) sowie die Politisierung der Jugend mit Migrationshintergrund, für die der "Kanakenmarsch" (marche des beurs, Oktober/Dezember 1983) ein deutlicher Beweis ist.
Dieser Wandel lässt sich zur Entwicklung der französischen Gesellschaft in Beziehung setzen, die bis in die siebziger Jahre hinein "monokulturell" (wenig offen gegenüber anderen Kulturen) geblieben war und den eigenen Rassismus nicht sah, da dieser tabu blieb. Die Nachwirkungen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und "aus anderen Gründen" den Algerienkrieg haben für die Entwicklung dieser Haltung eine entscheidende Rolle gespielt. Das Einwanderungsthema taucht erst da in der öffentlichen Diskussion auf, wo die französische Gesellschaft beginnt, sich anderen Kulturen zu öffnen, wo das Rassismus-Tabu aufgehoben wird, also die Franzosen es wagen, sich selbst des Rassismus anzuklagen.
2. Aufnahmen und Zurückweisungen
Drei Wegmarkierungen charakterisieren die
Entwicklung der öffentlichen Haltung zur Einwanderung.
Die Art, in der die öffentliche Meinung nach 1945
reagiert, zeichnet sich dabei durch eine ständige
Spannung zwischen Aufnahmebereitschaft und Zurückweisung
aus.
Es lassen sich drei Formen der
Zurückweisung ausmachen :
a) Der gewöhnliche Rassismus als eine Art Konstante der Geschichte, ein Rassismus von unvorhersagbarer und nicht zu beindruckender Dummheit, wunderbar in Szene gesetzt in den Figuren von "Dupont Lajoie" (aus dem Film von Yves Boisset von 1974) oder von "Beauf", wie er von Humoristen und Karikaturisten beschrieben wurde.
b) Der Krisenrassismus, der mit den ökonomischen Schwierigkeiten ansteigt, sobald der eingewanderte Arbeiter als Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt ausgemacht wird : Die Folgen der Krise von 1929 und der Ölkrise 1963-74 sind in dieser Hinsicht vergleichbar, da sie eine rasche Verschärfung der Einwanderungsgesetzgebung verursachen.
c) Der koloniale oder post-koloniale Rassismus, der vor allem der jüngsten Geschichte (V. Republik) eigentümlich ist und aus dem ehemaligen Kolonisierten den Sündenbock der Öffentlichkeit macht, den es zuallererst zurückzuweisen gilt.
Zahlreiche Quellen, darunter Umfragen, beweisen eine ausgeprägte Hierarchie hinsichtlich der Zurückweisung der Ausländer. Wenn wir die großen kontinentalen Gruppen betrachten, sind die Europäer am besten angesehen (unter diesen die Italiener vor den Spaniern und Portugiesen), es folgen die Asiaten (die lediglich um die Mitte der siebziger Jahre berücksichtigt werden, als die "boat people" aus Südost-Asien eintreffen), dann die Migranten aus Schwarzafrika und am Ende die Maghrebiner, unter denen die Algerier am stärksten stigmatisiert sind.
Diese drei Formen der Ablehnung werden nicht nur von der extremen Rechten transportiert. Auch die anderen politischen Kräfte, und in deren Folge ein Teil der öffentlichen Meinung, entwickeln ablehnende Haltungen. Anscheinend erreicht die rassistische Gewalt in Frankreich in den siebziger Jahren in den Höhepunkt, als sich die Fremdenfeindlichkeit in Aktionen ausdrückt. Das Jahr 1973 ist besonders reich an Gewaltakten gegen Einwanderer, insbesondere im Süden Frankreichs (Araberrazzien, etwa im Juni in Grasse und während des ganzen Sommers in Marseille, Attentate wie gegen das Algerische Konsulat in Marseille), und macht glauben, daß es ethnische Konflikte auf französischem Territorium gibt. In den achtziger Jahren drückt sich der Rassismus, der als neu und gewalttätig wirkt, eher verbal und in inhaltlicher Weise aus, was mit der Sichtbarkeit der Front National zusammenhängt.
Die Bewegungen, die Aufnahme und Toleranz befürworten, sind sehr heterogen. Sie umfassen zahlreiche Interessenpole : Antirassistische Vereinigungen (ältere wie die LICRA, die Liga für Menschenrechte und die MRAP sowie jüngere wie SOS Racisme und France Plus), die extreme Linke (insbesondere die PSU), linke Christen, eine gewisse Anzahl an Intellektuellen und schließlich die Jugendlichen aus Migrantenfamilien (seit 1981-1985). Es entwickelt sich auch eine Reihe von Slogans, die den Integrationsgedanken anhand der Oberbegriffe "Plurales Frankreich" und "Zusammen Leben" propagieren und nach und nach von den Franzosen angenommen werden.
3. Einwanderungsfrage und nationale Identität
Unter dem Druck der Front National erfasst das Verhältnis zwischen Einwanderung und nationaler Identität ab 1983-1984 alle Strömungen. Es stehen sich nun zwei Frankreich gegenüber : Das der Öffnung und das des identitären Rückzugs. Drei Debatten, die sich zunächst an Einzelfragen entzündet haben, zeigen die Leidenschaft, mit der die nationale Identität belegt ist : Die Diskussion um das noch nicht geregelte Wahlrecht für Eingewanderte (ab 1981); die Diskussion um die Staatsangehörigkeit (von 1985/86 bis zur Reform 1993); die Debatte über den konfessionellen Unterricht (seit der Kopftuchaffäre 1989).
4. Die Phantasmen der öffentlichen Meinung
Der Historiker der (öffentlichen) Meinung ist verpflichtet, Urteilsverzerrungen "Früchte der zahlreichen kollektiven Ängste" und Legenden aufzuzeigen. In Bezug auf die Immigration erweist sich das Studium der zahlreichen Verzerrungen als sehr fruchtbar : Zwei Wahnvorstellungen sind klassisch und beziehen sich auf die Fragestellung : Die der Zahl (Angst vor Invasion und Frage der Toleranzschwelle) und die der Unsicherheit (Bild des straffälligen Einwanderers). Wahnhafte Vorstellungen zur Religion, praktisch ausschließlich in Bezug auf den Islam, erscheinen erst zu Beginn der achtziger Jahre mit der iranischen Revolution, als die Angst vor dem Islam zu einer Gleichsetzung von Einwanderern und fundamentalistischen Muslimen führt. Heimtückischer ist der Topos vom schlechten Kontakt : Die Mischung verschiedener Gemeinschaften führe zu rassistischen Konfrontationen, wobei die verdeckte Idee die ist, daß der interkulturelle Kontakt nur zum Rassismus führen kann. Es ist von Bedeutung, daß die antisrassistische Argumentation vom "Recht auf Differenz" von der extremen Rechten (unter dem Einfluß der Denker der Neuen Rechten) um die Mitte der achtziger Jahre pervertiert worden ist zur Begründung für Exklusion. Schließlich führt die letzte Legende, die in Volkskreisen, aber auch unter Intellektuellen verbreitet ist, die Behauptung an, daß maghrebinische Arbieter "im Gegensatz zu den Italienern der vorangegangenen Epoche" nicht in die französische Gesellschaft integriert werden könnten. Diese Linie ist in den achtziger und neuziger Jahren häufig verwendet worden, um die Exklusion der Jugendlichen, die aus dieser Einwanderung hervorgegangen sind, zu legitimieren.
Das Verhältnis der Franzosen zur Einwanderung hat sich seit Mitte der neunziger Jahre stark gewandelt : Eine Abschwächung der Spannungen ist unbezweifelbar, es hat sich ein gewisser Optimismus im Hinblick auf diese Fragen breitgemacht (Wirkungen der Fußballweltmeisterschaft, der Reifung der Medien, der gut vorangeschrittenen Integration, gemischter Kulturprodukte und eines stiller gewordenen politischen Diskurses). Die Periodisierung der Mutationen, denen die öffentliche Meinung über die Ausländerfrage unterworfen war, klärt sich also nach und nach : Dem ignorierten Eingewanderten (bis in die siebziger Jahre) folgte der stigmatisierte (achtziger bis Anfang neunziger Jahre) und schließlich der akzeptierte (Prozeß, der seit Beginn der neunziger Jahre im Gange ist).